Harry Timmermann

Buchzeit

Peter Hoeg

Die Frau und der Affe

Roman

Hanser-Verlag

"Neue Blicke in alte Löcher" hat der GöttingerPhilosoph und Experimentalphysiker Georg Christoph Lichtenbergam Ende des 18. Jahrhunderts in einem seiner "Sudelbücher"gefordert und damit einen programmatischen Ansatz skizziert, derheute, am Ende einer Epoche äußerer wissenschaftlicherEntdeckungen, besonders aktuell klingt. Wenn es anscheinend nichtsNeues mehr zu sehen gibt, so sollten wir neu sehen lernen. Diesogenannte Science Fiction in der Literatur und mehr noch im Filmsetzt oft genug nur den alten, meist mittelalterlich oder romantischgeprägten Blick auf menschliche Beziehungen fort, wenn sieihre Helden in den scheinbar neuen Verhältnissen sich bewährenläßt. Spannend kann es hingegen werden, wenn der Einbruchdes Zukünftigen und noch für unmöglich Gehaltenenin die gegenwärtige Realität wirklich neue Sichtweisenauf die Gegenwart provoziert. Dann wird der Schriftsteller nichtzum bloßen Fantasy-Autor, der die Schatzkiste der Mythenplündert, sondern zum - Peter Handke würde sagen - "Schwellenkundler"an den Grenzen des Begreifbaren.

In Peter Hoegs Roman "Die Frau und der Affe" brichtdas Zukünftige in der Form des Abgeschobenen und Vergessenenaus der Vergangenheit , das sich selbständig gemacht hat,in die Gegenwart ein: diesmal aber nicht in erster Linie tiefenpsychologischals die Wiederkehr des Verdrängten verstanden - wenn es sichnatürlich auch so deuten ließe - , sondern entwicklungsbiologischals eine andere evolutionäre Möglichkeit der Menschheitsgeschichte.Der Affe, der im buchstäblichen Sinne in die Londoner Zivilisation"einbricht"- mit einem Segelboot nämlich, dessenSteuer er übernommen hat, kracht er in den Hafen - dieserAffe gehört, wie sich herausstellt, weniger zu einer derbekannten Arten von Menschenaffen als vielmehr zu einer noch unbekanntenSpecies von Affenmenschen: Resultat einer vor etwa einer MillionJahre erfolgten evolutionären Abspaltung der Menschenrasse.Sie hatte zur Hälfte die körperliche Konstitution vonAffen beibehalten hat, während sie - auf einer weit abgelegenendänischen Insel - ihre Intelligenz weiter ausbildete unddabei die der anderen Menschen überholte. Und nun sind siegekommen, die Menschen, die sich für einzigartig halten,zu warnen und zu mahnen, vor allem ihr Verhältnis zu denTieren neu zu überdenken.

Mit London haben sich diese affenartigen Über-Menscheneinen Ort gewählt, der als, so heißt es einmal, "einesder größten Habitate für nichtmenschliche Wesenauf unserer Erde überhaupt" gilt. Und die meisten dieserWesen sind nicht aus freien Stücken in die Stadt gekommen,um mit den Menschen zu leben, sondern hergeschleppt worden, umvon ihnen verbraucht zu werden. 20500 Hähnchen täglich.5800 Schweine, 1520 Ochsen, 6000 Schafe. Die Stadt nimmt täglich2 Millionen Kilo tierisches Eiweiß zu sich. Dazu die Nutztiere.500 Wachhunde, 5000 Zug- und 4000 Rennpferde. Dann dieTiere fürandere, menschliche Bedürfnisse: 1000000 Hunde, 1.5 MillionenKatzen, 5 Millionen Käfigvögel. Dazu kommen noch dieTiere in den privaten und öffentlichen Versuchslaboratorien,in den Pharmafabriken, Veterinärinstituten und so weiter.Insgesamt über 30 Millionen nichtmenschliche Wesen, auf 10000Arten verteilt: 75000 Kilo animalische Biomasse pro Quadratkilometerlebt und stirbt in London.

Und nun der Affe Erasmus. Hoegs Roman schildert London nichtetwa aus der Perspektive des Affen, er ist vielmehr der Katalysator,der Prozesse provoziert, die die gesellschaftlichen und persönlichenVerhälnisse bis zur Kenntlichkeit entstellen. Aus dem strebsamenund irgendwann auch einmal tierliebenden Zoologen wird ein karrierebesessenesMonstrum, das die Chance seines Lebens wittert, mit der größtenwissenschaftlichen Entdeckung des 20. Jahrhunderts aufzuwartenund damit den begehrten Direktorposten des renommiertesten Zoosder Welt zu erlangen. Er läßt den Affen einfangen,behält ihn - gesetzwidrig - in seiner Wohnung und untersuchtihn mit allen Apparaten und den meist schmerzhaften Methoden,die ihm zur Verfügung stehen. Seine nach anderhalb JahrenEhe schon schwer alkoholabhängige Frau dagegen erkennt durcheinen Blick in die Augen des Affen, der ihr eine Zitrone hinhält,wie sie wirklich sein möchte. Sie flieht mit ihm überLondons Dächer, an Londons Fassaden entlang, bis in einenbeinahe paradiesischen Garten außerhalb der Stadt, wo siesich lieben und wo sie bleiben würden, gäbe es nicht,so der inzwischen sprechende Affe Erasmus, "die anderen",seine Artgenossen nämlich, und seinen Auftrag, zu den Menschenzu sprechen. Und so geht es zurück nach London, wo der neueZoodirektor vor den Medien der Welt gekürt werden soll undnun der Affe seinen spektakulären Auftritt bekommt.

Peter Hoegs Roman: "Die Frau und der Affe" ist einweiterer ökologischer Thriller wie sein verfilmtes Erfolgsbuch"Fräulein Smillas Gespür für Schnee",er steckt voller Bezüge auf Märchen und Mythen der Menschheits-und der Filmgeschichte, und er ist eine ätzende Satire aufdie Sucht nach Geld und Ruhm und die Ausbeutung der animalischenUmwelt für diese Sucht. Nicht nur die Geschichte, die ererzählt, mehr noch die Sprache, die er wählt, berührtdie Grenzen des Menschlichen. Satiren verwenden oft das Stilmittelder Reduktion, Menschen werden darin zu "nichts als"Triebwesen, vermeintliche Selbstbestimmung als Selbsttäuschungentlarvt. Hoeg geht einen Schritt weiter: seine Sprache ist weitgehendnaturwissenschaftlich geprägt, und der metaphorische Bildbereich,den er am liebsten evoziert, wenn er Gefühle darstellen will,ist die Chemie. Ein Beispiel: die Darstellung des Ausbruchs derPubertät in einem dänischen Mädcheninternat:

"In ihrem vierten Jahr an der Schule trat eine Naturkatastropheein. Innerhalb weniger Monate brach bei allen dreißig Mädchenin Madelenes Klasse das Erotische durch.

Die Klasse war immer bedenklich still gewesen, währendder letzten Jahre hatte das Schweigen zugenommen, und die Schwesternhatten diese Zurückhaltung irrtümlich für Apathiegehalten. Von Anfang an waren die Mädchen eine Flüssigkeitgewesen, die die Zeit mit einer abwartenden chemischen Gefährlichkeitgesättigt hatte. In diese Sättigung fiel jetzt ein mikroskopischesPartikel, das nie identifiziert wurde, und an diesem Splitterdes Zauberspiegels kristallisierte die Flüssigkeit. Daraufhinexplodierte sie.

Die Katastrophe nahm unterschiedlich Formen an. Keines derMädchen hatte gewußt, worauf es sich zubewegte, undfür einige kam die Veränderung als inkurables Trauma.Ihren bis dahin gertenschlanken und jungenhaften Körpernentwuchsen tumorartige Fettwülste, die sie auf dem Sportplatzbehinderten, sie aus ihren Kleidern und dem gewohnten Rahmen preßtenund sie einer ätzenden männlichen Begierde aussetzten.Andere wurden von den Kräften, die in ihnen emporwuchsen,überschwemmt. Aus einer stillen und zaghaften Kindheit wurdensie erst verbal und dann physisch in eine unproportionierte, promiskuöseObszönität gestürzt - und stürzten sich selbsthinein.

Es war das Ende einer Reise. Sie waren wie dreißig Lemmingeam Meer angekommen. Jetzt gingen sie bei dem Versuch, krampfhaftim Land der Kindheit zu bleiben, zugrunde. Oder sie warfen sichins Wasser und ertranken."

Der Roman von Peter Hoeg schildert das heutige oder künftigeLondon, besonders aber seine gesellschaftliche Elite, als einesolche Horde von wissenschaftlichen, ökonomischen und erotischenLemmingen. Schwer vorstellbar, daß ein gewiß kommenderFilm neben der kriminalistischen Spannung des Romans, seiner stellenweisemärchenhaften Poesie, seiner archaischen Mythologie und demmonströsen Reiz seiner Figuren an den Grenzen der Menschheitund Menschlichkeit auch die ätzende Schärfe seiner Gefühls-,Gesellschafts- und Zivilisationsanalyse übermitteln könnte.

engl. Rezension zu "THE WOMAN AND THE APE"
Rez. zu "Der Plan von der Abschaffung des Dunkels"
engl. Rezension zu "SMILLA'S SENSE OF SNOW"

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HARRY'S FREILACH Klezmer tov!

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