aus:
Ruth Ellen Gruber: Virtually Jewish
Reinventing Jewish Culture in Europe
University of California Press Berkeley/Los Angeles/London 2002
Übersetzt aus dem Englischen


Harry Timmermann, der Klarinettist der Berliner Klezmergruppe Harry's Freilach, interessierte sich Anfang der 1990er Jahre durch Feidman-Aufnahmen und Workshops für Klezmermusik. Als wir 1997 sprachen, unterstützte er Feidmans Ansicht, dass es wichtig ist, vor allem die Gefühle und die unausgesprochene Botschaft der Musik zu vermitteln und nicht ihre historische Identität oder spezifisch jüdische kulturelle Kontexte.

Timmermann, ein blasser, leiser Mann mit ergrauendem Haar und einer Drahtbrille, wurde in Ostdeutschland geboren, wuchs aber ab dem Alter von drei Jahren in Westdeutschland auf. Als Teenager spielte er Klarinette, gab es aber auf und studierte später Literatur und Philosophie. Timmermann sagt, die Begegnung mit Feidmans Musik habe ihn dazu bewogen, nach zwanzig Jahren wieder zur Klarinette zu greifen.

Er begann mit einem christlichen Pfarrer Klezmermusik zu spielen, einem Freund, der Gitarrist war. Sie spielten Klezmer in der Pfarrkirche und zogen bald ein Publikum an.

Der Reiz der Musik, so sagte mir Timmermann, sei tatsächlich eine Art christliche Spiritualität: "Manchmal habe ich das Gefühl, mit Hilfe jüdischer Melodien die Wurzeln der christlichen Kultur zu studieren, aber es ist sehr persönlich und sehr emotional."

Nach Feidmans Vorbild ist Timmermanns Aufführungsstil stark von persönlicher Interpretation geprägt, beruht auf Intonation, Phrasierung und Evokation. Er lässt seine Klarinette "reden" und "singen", "lachen" und "weinen" und strebt eine direkte emotionale Verbindung zu seinem Publikum an, die seiner Meinung nach der der ursprünglichen osteuropäischen Klezmorim nahe kommt. "Jüdisch" hat etwas - aber nicht viel - damit zu tun.

"Ich verwandle Klezmer nicht in Jazz, wie es manche tun", sagte Timmermann. Ich nehme nicht diese Melodien und mache dann daraus meine persönlichen Improvisationen. Ich nehme die Melodien so wie ich sie vorfinde. Und ich glaube wirklich, dass wir sie so spielen, wie es die Intention der Klezmer-Musiker im Laufe der Jahrhunderte gewesen sein könnte - wobei es nicht mein Hauptanliegen ist, einen besonderen Stil etwa aus dem 19. Jahrhundert zu bewahren. Ich nenne das, was ich spiele, Klezmer, weil ich diesen Wurzeln, diesen Melodien sehr dankbar bin; ich respektiere sie und möchte nichts daran ändern. Ich arbeite in erster Linie am Ausdruck, und ich versuche, einen Ausdruck zu finden, der natürlich "jüdisch" klingt - aber nur insofern, als ich denke, dass "jüdisch" das intensivst mögliche Gefühl ist. Man kann auch sagen, dass das nichts mit jüdischer Kultur zu tun hat, dass das auch Tango oder etwas anderes leisten könnte. Aber für mich war es insofern "jüdisch", als ich das Gefühl hatte, mit diesen alten Melodien an meinen kulturellen Emotionen arbeiten und damit weit kommen zu können... Ich versuche, respektvoll und dankbar mit diesen Klezmer-Melodien umzugehen."

Ich habe mit Timmermann bei der Release-Party und dem Konzert zu einer neuen CD seiner Gruppe gesprochen. Es war ein Ereignis, das die anhaltenden Holocaust-Assoziationen mit jüdischer und jiddischer Musik und die mit dem Genre verbundene emotional-politische Symbolik demonstrierte - auch wenn es nicht im Rahmen einer Gedenkfeier veranstaltet wurde. Das Konzert- eine nichtjüdische Gruppe, die für ein nichtjüdisches Publikum spielte - fand an einem Veranstaltungsort namens "Ruine" statt, einem kriegszerstörten Gebäude aus dem 19. Jahrhundert, tief im Inneren des riesigen Komplexes der alten Charité im ehemaligen Ost-Berlin.

Vor dem Krieg beherbergte das Gebäude das 1899 gegründete Pathologiemuseum des Krankenhauses mit einer renommierten Sammlung von mehr als 23.000 anatomischen und pathologischen Präparaten. Die Bombardierung im Zweiten Weltkrieg zerstörte den größten Teil der Sammlung und hinterließ den großen Saal im Obergeschoss des Gebäudes als offene Ruine, die erst in den 1960er Jahren von einem provisorischen Zementdach bedeckt wurde. In den 1990er Jahren, nach der deutschen Wiedervereinigung, wurde das Gebäude zu einem medizinhistorischen Museum: In den unteren Stockwerken wurden jetzt in Formaldehyd schwimmende erkrankte Organe und andere grausig faszinierende Exponate ausgestellt. Das Dachgeschoss war teilweise zerstört und wurde nun als ein stimmungsvoller Ort für Konzerte und andere Veranstaltungen genutzt.

Hier also präsentierte Harry's Freilach ein Klezmer-Konzert - in einer Umgebung, die durch die tatsächliche physische Zerstörung des Zweiten Weltkrieg geschaffen wurde. Das Konzert feierte die Veröffentlichung einer CD mit dem Titel "Klezmer Tov!", der Freude ausdrücken sollte und deren Verpackung keinen Bezug zum Holocaust oder zum jüdischem Trauma aufwies. Aber es spielte sich in einer höhlenartigen, kriegszerstörten Halle mit vernarbten Backsteinwänden ab, wo rohe Backstein-Innenkonstruktionen in einer fast skulpturalen Ruine standen und zerbrochene Eisenbalken von der hohen Fertigbetondecke hingen.

Die meisten der 80 bis 100 Zuschauer schienen in den Vierzigern oder Fünfzigern zu sein, obwohl es auch einige ältere und jüngere Leute gab. Eine Frau sagte mir, die zerstörte Kulisse sei genau richtig für die Musik. "Ich habe vor ungefähr drei Jahren zum ersten Mal von Klezmer gehört", sagte sie. "Ich kann nicht sagen, was an dieser Musik so besonders ist. Es scheint, als ob etwas Altes zurückkommt. Ein paar alte Gefühle irgendwie ... über die vergangene Zeit. Wenn ich dieses Gebäude hier sehe, hier ist alles kaputt - und diese Musik passt einfach hier hinein. Die meiste Musik ist heutzutage gleich, also normal, Sie können sie hören oder einfach das Radio ausschalten. Aber wenn ich so etwas, Klezmer, höre, schalte ich das Radio nicht aus - wenn ich im Auto wäre und aussteigen wollte, würde ich sitzen bleiben und warten, bis es vorbei ist. Ich habe überhaupt keine Ahnung von Musik, ich kann nur sagen, ob ich sie mag oder nicht, aber diese bewegt etwas in mir. Ich kann nicht sagen, was es ist."